Gedenken der Euthanasieopfer

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Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Am 27. Januar gedachten auch in Rostock viele Menschen der Opfer des Faschismus. Mitglieder unseres Vereins brachten Blumenschalen an die Mahnmale für die im Zuge der Euthanasie Ermordeten vor der Klinik in Gehlsdorf und auf dem Gelände des Michaelshof. Dort nahmen sie auch an der Andacht teil.

Ein Einzelschicksal

Erinnerungen eines Sohnes und einer Enkelin an ein Opfer der T4-Aktion

Vom Michaelshof in den Tod

Am 27. Januar 2016, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, fand eine eindrucksvolle Veranstaltung des Zentrums für Nervenheilkunde der Universitätsmedizin Rostock und der evangelischen Stiftung Michaelshof statt. Nach der Eröffnungsveranstaltung im Hörsaal des Zentrums legten die Teilnehmer Kränze und Blumengebinde am Mahnmal für die Euthanasieopfer nieder, unter anderem der Präsident der Bürgerschaft Herr Dr. Nitzsche und der Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbandes in Mecklenburg-Vorpommern Herr Peter Braun. Im Speisesaal des Michaelswerkes wurde anschließend der 22 Menschen gedacht, die aus dem Michaelshof in den Tod geschickt wurden. Der Landespastor des Diakonischen Werks Mecklenburg-Vorpommern, Herr Martin Sciba, erinnerte in seiner sehr emotionalen Rede an die Schuld, die auch seine Kirche am Tod dieser Menschen hat. Zum Abschluss wurde feierlich eine Stele enthüllt, die nun auf dem Gelände des Michaelshofes an die Opfer erinnert und mahnt – das Unmenschliche darf sich nicht wiederholen.

Robert Bull und Manfred Ehrlich nahmen an der Veranstaltung teil und legten im Namen unseres Vereins Blumen an die Gedenkstätten.

Robert mit unseren Blümchen am Gedenkstein160127

 

Stele Michaelshof mit unserem Blumengesteck160127

Zur Geschichte dieses Verbrechens:

Erinnern – Betrauern – Wachrütteln

Zum Gedenken an die Opfer von Zwangssterilisationen und „Euthanasie“ in der Zeit des Nationalsozialismus

„Ihr habt jahrelang in großen Schlafsälen zusammen gelegen […] ihr habt zusammen gegessen und abgewaschen, ihr habt euch gestritten und gegenseitig geholfen, habt in der Besuchszeit auf eure Familie gehofft und euch Fotos gezeigt, ihr habt zusammen im Transportbus mit zugezogenen Vorhängen gesessen […] und ihr habt zusammen barfuß auf den weißen Fliesen gestanden […] in der Bernburger Klinik […] Dann seid ihr übereinander zusammengesunken […] “ (Helga Schubert, Die Welt da drinnen, 19).

An drei Tagen des Sommers 1941, am 11. und 18. Juli sowie am 1. August, beförderte die so genannte „Gemeinnützige Krankentransport GmbH“, kurz GEKRAT, psychisch kranke Menschen aus den Heil- und Pflegeanstalten Domjüch bei Neustrelitz und Sachsenberg bei Schwerin in das etwa 300 km entfernte anhaltische Bernburg. Auch dort befand sich eine Heil- und Pflegeanstalt. Sie fungierte seit 1940 als eine von sechs so genannten „Euthanasie-Anstalten“. Kurzum, sie war ein Tötungszentrum, in dem sich das damals noch auf 1.000 Jahre konzipierte Reich seiner psychisch Kranken und Behinderten, so genannter „Ballastexistenzen“, „Minderwertiger“ und „Lebensunwerter“, entledigte. Unter dem euphemistisch-zynischem Begriff der „Euthanasie“, wörtlich: der leichte, gute Tod, wurden zwischen 1939 und 1945 systematisch kranke und behinderte Menschen ermordet.

Wohl etwa 400 Personen umfassten die Transporte des Sommers 1941, kaum weniger, wie viel mehr ist nicht bekannt. Darunter befanden sich auch Patienten der Psychiatrischen- und Nervenklinik Rostock-Gehlsheim. Sie starben in der Gaskammer der Bernburger Klinik, im Keller des ehemaligen Männerhauses II, ebenso wie andere psychisch Kranke und Behinderte. Insgesamt fielen in Bernburg mindestens 8.324 Menschen den Krankenmorden zum Opfer, in Brandenburg waren es mehr als 9.000, im sächsischen Pirna-Sonnenstein 13.720, im hessischen Hadamar 10.113, in Grafeneck bei Stuttgart 10.600 und im österreichischen Hartheim 18.269. Die Bilanz dieser so genannten „Aktion T4“, benannt nach dem geheimen Sitz der Organisation in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, belief sich auf 70.273. In weniger als zwei Jahren, zwischen Januar 1940 und August 1941, wurden also mehr als 70.000 kranke und behinderte Menschen

ermordet. Es handelte sich um die erste systematisch und zentral organisierte Massenvernichtung im Nationalsozialismus.

Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) Zwangssterilisationen als „Vorreiter“ der „Euthanasie“

Bereits im Juli 1933 wurde ein Gesetz verabschiedet, welches das Ziel der Nationalsozialisten, die Umgestaltung der Gesellschaft unter rassehygienischen Aspekten, offen legte. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) war eines der ersten nationalsozialistischen Gesetze. „Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:

  1. angeborenem Schwachsinn,
  2. Schizophrenie,
  3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein,
  4. erblicher Fallsucht
  5. erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea)
  6. erblicher Blindheit
  7. erbliche Taubheit
  8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung.

Ferner […] wer an schwerem Alkoholismus leidet.“ (Wolfram Kaiser et al., Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“, 126).

Beamtete Ärzte sowie Leiter von Kranken-, Heil-, Pflege- und Strafanstalten wurden zur Meldung verpflichtet. Die Betroffenen konnten notfalls mit polizeilicher Gewalt in die Krankenhäuser gebracht werden, so wie im unten genannten Fall von Paul L. Mit dem Inkrafttreten des GzVeN am 1. Januar 1934 kam es zur Errichtung so genannter Erbgesundheitsgerichte, in denen ein Arzt, ein Beamter des Gesundheitsministeriums sowie ein Richter über die vorliegenden Anträge zur Sterilisation entschieden. In Mecklenburg gab es vier solcher Erbgesundheitsgerichte, in Schwerin, Rostock, Güstrow und Neustrelitz. Allein im ersten Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes wurden in Mecklenburg 1.846 Sterilisationsanträge gestellt, in 92% der Fälle positiv beschieden (Sybille Harms, Fürsorge im Nationalsozialismus, 250). Damit zählte Mecklenburg zunächst zu den Regionen im Deutschen Reich, in denen der Widerspruch gegen die Durchführung der Sterilisation am wenigsten Erfolg hatte. Dr. Wolf Skalweit, Oberarzt an der Psychiatrischen- und Nervenklinik Rostock- Gehlsheim und Mitglied des Erbgesundheitsgerichtes Rostock, war stolz auf eine solche Bilanz (Wolf Skalweit, Die Tätigkeit des Amtsarztes). Die Gehlsheimer Klinik hatte pro Jahr etwa

1.000 Fälle zu untersuchen (Sybille Harms, Fürsorge im Nationalsozialismus). Die wenigen erhaltenen Krankenakten legen nahe, dass die Rostocker Ärzte, neben Sklaweit interessierten sich vor allem Dr. Otto Schiersmann und der Direktor der Klinik, Prof. Ernst Braun, für erbbiologische Fragen, in Zweifelsfällen eher für eine Sterilisation stimmten. Notfalls sollte das Sterilisationsverfahren beschleunigt werden. Man schreckte auch nicht davor zurück, bei Frauen einen Schwangerschaftsabbruch durchführen und sie anschließend zwangssterilisieren zu lassen, so z. B. bei der 30-jährigen Lucie B. aus Parchim, die an einer Schizophrenie erkrankt war. Insgesamt schätzt man, dass in den Jahren 1934 bis 1945 etwa 400.000 Menschen sterilisiert worden sind. Diese Zahl entspricht etwa einem Prozent aller Menschen im zeugungs- und gebärfähigen Alter im Gebiet des „Altreichs“. In Mecklenburg geht man von mindestens 5.000 Personen aus (Miesch, Zwangssterilisationen in Mecklenburg), eine Zahl, die bei der weiteren Erforschung des Themas in den nächsten Jahren wohl nach oben korrigiert werden muss.

Die „Aktion T4“

„Bei meinem Eintreffen […] mußte ich feststellen, dass […] diese Aktion

Massentötungen beinhaltete.“ (Zeugenaussage einer Schreibkraft der Bernburger „Euthanasie“- Anstalt, GStA, Js 16a/63).

Die Grundlage der „Aktion T4“ bildete ein auf privatem Briefbogen Hitlers im Oktober 1939 verfasstes Schreiben, in dem er den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, sowie seinen Leibarzt, Dr. Karl Brandt, beauftragte „die Befugnisse namentlich %u bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheits%ustandes der Gnadentod gewährt werden kann […]“ (Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, 190). Tatsächlich hatte der Inhalt des Dokuments nichts mit der Realität gemein. Die Vollmacht Hitlers wurde auf den 1. September 1939, Kriegsbeginn, zurückdatiert. Nun begann die praktische Umsetzung der auf dem Papier längst vorbereiteten „Euthanasie“-Aktion. Es begann der Krieg gegen wehrlose Menschen. Mordzentren, ausgestattet mit einer möglichst effizienten Art der Tötung, mussten eingerichtet, die Transporte der Opfer, möglichst unauffällig, organisiert werden. Doch zunächst galt es, diejenigen auszusondern, die nach Ansicht der Nationalsozialisten keine Berechtigung auf Leben hatten. Von der T4-Zentrale in Berlin wurden Fragebogen an staatliche, konfessionelle und private Nervenkliniken, an Heime und ähnliche Einrichtungen verschickt, in denen psychisch kranke und/ oder behinderte Menschen untergebracht waren. Über den Zweck dieser Auskünfte wurden die Anstaltsleiter zunächst nicht informiert. Zu melden waren alle Patienten, die

„[…] an nachstehenden Krankheiten leiden und in den Anstaltsbetrieben nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten (Zupfen u. ä.) zu beschäftigen sind: Schizophrenie

Epilepsie (wenn exogen, Kriegsdienstbeschädigung oder andere Ursachen angeben), senile Erkrankungen,

Therapie-refraktäre Paralyse und andere Lues-Erkrankungen,

Schwachsinn jeder Ursache,

Encephalitis,

Huntington und andere neurologische Endzustände […]“ (zit. nach Ernst Klee, Euthanasie im NS-Staat, 93).

Außerdem sollten alle Patienten erfasst werden, die sich seit mindestens 5 Jahren in Anstalten befanden, kriminelle Geisteskranke, diejenigen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen oder nicht „deutschen oder artverwandten Blutes“ (zit. nach Ernst Klee, Euthanasie im NS-Staat, 93) waren. Damit war der Rahmen eines „lebensunwerten Lebens“ abgesteckt.

Auch Rostocker Ärzte füllten diese Fragebogen aus. Nach Berlin zurückgesandt, wurden sie kopiert und den zuständigen T4-Gutachtern zugeschickt. Mit einem Plus (zur „Euthanasie“ freigegeben) bzw. einem Minus (von der „Euthanasie“ zurückgestellt) entschieden sie über Tod und Leben von Menschen, die sie nie gesehen hatten. Auch nach damals geltendem Recht stellte die Umsetzung der „Aktion T4“ den Tatbestand der Tötung dar.

Verlegungen zum Sachsenberg und nach Domjüch

Im Zuge kriegsbedingter Maßnahmen war Anfang September 1939 die Rostocker Psychiatrische- und Nervenklinik zu zwei Dritteln geräumt worden. Neben zahlreichen Entlassungen kam es zwischen dem 4. und 6. September 1939 zu Verlegungen von etwa 220 Patienten in die Heil- und Pflegeanstalten Domjüch und Sachsenberg, darunter vor allem Langzeit-Patienten und diejenigen, die als unheilbar galten. Einige von ihnen wurden im Juli oder August 1941 per Bahn bzw. von den grauen Bussen der GEKRAT, deren Fensterscheiben von außen mit dunkler Farbe zugepinselt waren, von Domjüch oder vom Sachsenberg nach Bernburg zur Tötung gebracht. Es waren diejenigen, deren Leben mit einer sechsstelligen, zentral von Berlin vergebenen Nummer als „lebensunwert“ etikettiert worden war. So z. B. das von Viktoria G. (Z-Nummer 165.832) aus dem Kreis Güstrow. Kurz nach ihrem 23. Geburtstag erfolgte am 11. Juli 1941 der letzte Eintrag in ihre Krankenakte: „Ungeheilt entlassen“. Dies bedeutete nichts anderes, als dass Viktoria noch am selben Tag im Gas starb. Ebenso erging es Ella H. (Z 165.864) aus Stralsund, die „zu nichts brauchbar“ war. Die 68-jährige Anna K. (Z 165.831) „stopftefleißig Strümpfe“ und „arbeitete regelmäßig“‚.

Aber auch das half ihr nicht. Und ebenso besiegelt war das Schicksal von Fritz N. (Z 165.210) aus Schalensee, der „mitunter freundlich und zugänglich“ war. Margarete T. (Z 165.815), bereits seit 1928 wegen einer schizophrenen Erkrankung in psychiatrischer Behandlung, war 1935 zwangssterilisiert worden. In einem Brief an ihren Vormund vom Februar 1940 bittet sie darum, sich ihrer anzunehmen:

„Ich, möchte sie bitten sich um mich %u kümmern […] Ich bitte um Besuch. Und um Taschengeld […] Sie waren nun 5 Monate noch nicht hier. Nicht zu Weihnachten kein Päckchen, nichts. Tante war auch noch nicht hier. Sie sollte mir Sachen schicken […] Meinen kleinen blauen Hut, Briefpapier u. Bleistift, Seife. Bitte schicken sie mir die Sachen per Post. Oder kommen sie selbst […] So kannst nicht weiter gehen… Es ist schlimmer wie in Gehlsheim […] Bitte kümmern sie sich darum. Sie sind wohl noch nicht benachrichtigt solange ich hierbin. Traurig aber war […] Viele liebe Grüße sendet Margarete […]“ (alle Zitate BA, Rep.179). Weniger als anderthalb Jahre durfte sie noch leben. Und auch der 33-jährige Rostocker Paul L. (Z 165.215), der der Aufforderung, sich sterilisieren zu lassen, nicht nachgekommen und deshalb von der Polizei nach Gehlsheim gebracht worden war, wurde im September 1939 in die Schweriner Klinik Sachsenberg verlegt und von dort aus, wie 274 seiner Mitpatienten, in die Gaskammer von Bernburg.

Mehr als 70 Prozent der in Bernburg getöteten Rostocker Patienten litten an einer Schizophrenie. Die übrigen waren an progressiver Paralyse oder Epilepsie erkrankt bzw. gehörten zu den, nach damaligem Sprachgebrauch „Schwachsinnigen“. Doch Rostocker Patienten starben nicht nur in der Gaskammer von Bernburg. Auch nach dem offiziellen Stopp der „Aktion T4“ am 24. August 1941, vorausgegangen war die berühmte Rede des Münsteraner Bischofs, Graf Clemens von Galen, ging das Morden weiter: nun durch Tabletten, Injektionen, Nahrungsentzug. Die so genannte „Dezentrale“ bzw. „Wilde Euthanasie“ wurde bis zum Zusammenbruch Deutschlands im Mai 1945 durchgeführt.

Die „Aktion T4“ erreicht Rostock-Gehlsheim

“ […] in Erinnerung ist mir die Vorschrift, den Zweck der Verlegung geheim

zu halten [.••]“ (Aussage des ehemaligen Klinikleiters, Prof. Ernst Braun, BStU, AR 8).

Der Zweck war die Tötung psychisch Kranker. Am 29. September 1941 standen die grauen Busse nun auch auf dem Gelände der Gehlsheimer Klinik. Es war der erste, offiziell von Rostock ausgehende „Euthanasie“-Transport. Wahrscheinlich war es auch der letzte, denn die „Aktion T4“ war bereits einen Monat zuvor gestoppt worden. Der ehemalige Klinikleiter, Prof. Braun, gab in dem gegen ihn 1950 geführten Prozess zu, dass er „erriet […], dass es sich bei dem Fragebogenausfüllen

um das Euthanasieverfahren, und bei den verlegten Personen schon um solche, die hierfür bestimmt waren, handelte“ (BStU, AR 8). 23 Rostocker Patienten wurden von der GEKRAT abgeholt und nach Uchtspringe (Altmark), einer Zwischenanstalt der Bernburger „Euthanasie“-Anstalt, gebracht. Ihre Namen befanden sich auf den in Berlin zusammengestellten Verlegungslisten und natürlich hinter jedem eine ihm zugewiesene Z-Nummer. Aus Gründen der Tarnung war es üblich, dass die Patienten nicht direkt in die Tötungszentren verlegt wurden. Da der Transport die Rostocker Klinik nach dem offiziellen Ende der „Euthanasie“-Aktion verließ, kam es nicht zur Weiterverlegung nach Bernburg. Die meisten von ihnen starben in Uchtspringe. Von dieser Anstalt wurden zwischen 1940 und 1941 1.787 Menschen in die „Euthanasie“-Anstalten Brandenburg und Bernburg verschickt. Außerdem sind in Uchtspringe zwischen 1940 und 1945 etwa 500 Kranke durch Morphiumspritzen, Tabletten und Nahrungsentzug getötet worden, darunter mit großer Wahrscheinlichkeit auch Gehlsheimer Patienten. Ein ehemaliger Pfleger der Landesheilanstalt Uchtspringe sagte 1949 aus, dass auf Anordnung der Ärzte täglich mehrere Luminal-Tabletten verabreicht wurden, in deren Folge die Patienten an Atemlähmung bzw. Lungenentzündung starben (GStA, Js 18/61). Auch der Rostocker Karl M. starb nach 5-monatigem Aufenthalt in Uchtspringe. Er war bereits seit 1926 wegen „angeborener Schwachsinns“ in Gehlsheim, zwischenzeitlich auf dem Sachsenberg. 1934 wurde er zwangssterilisiert. In seiner Krankenakte ist zu lesen, dass er „Nie Anfälle“ gehabt habe und „Immer gutmütig““(Krankenblattarchiv Uchtspringe) gewesen sei.

Von zwei Patienten des Transportes vom 29. September ist bekannt, dass sie von Uchtspringe in die „Euthanasie“-Anstalt Hadamar verlegt wurden. Diese Anstalt hatte nach einjähriger Pause, am 13. August 1942, die gezielten Patiententötungen wieder aufgenommen. Erich M., geboren 1914 in Rostock, war seit 1937 in Gehlsheim untergebracht. Auch seine Diagnose lautete „angeborener Schwachsinn“. Bereits 1935 war er auf Antrag der Ärzte der Rostocker Psychiatrischen- und Nervenklinik sterilisiert worden. Dadurch kam auch seine Schwester Grete ins Visier des Erbgesundheitsgerichtes Rostock. Noch im selben Jahr wurde auch sie zwangssterilisiert. Erich M. wurde am 5. November 1942 von Uchtspringe nach Hadamar verlegt. Der letzte, 11 Tage nach seiner Ankunft vorgenommene Eintrag in seine Krankenakte lautet: „Kam in äußerst elenden Zustand hier an. Erholte sich nicht mehr. Heute exitus an Marasmus“ (LWV, Best. 12). Eine vollkommen identische Notiz findet sich genau eine Woche zuvor in der Krankenakte der aus Schwaan stammenden 51-jährigen Frieda T. Sie war seit 1929 wegen einer Schizophrenie in der Gehlsheimer Klinik behandelt worden. Ihre Schwester Maria hatte sich vergeblich bemüht, etwas über ihren Aufenthaltsort zu erfahren. 1943 wurde ihr mitgeteilt, dass Frieda „an einer Herzschwäche, die sich hier lebensbedrohend verschlimmerte“ (LWV, Best. 12) gestorben sei.

Auch in der Schweriner Klinik Sachsenberg musste man sich immer wieder fingierte Todesursachen ausdenken. Der dort tätige Arzt, Dr. Alfred Leu, hatte seit 1940 damit begonnen, Patienten systematisch mit Veronal zu töten. Im Kollegenkreis wurde darüber diskutiert, denn er „konnte das nicht geheimhalten […] Dr. Leu hat das als sein gutes Recht angesehen. Zuerst waren es nur kleine Zahlen, später steigerte sich das.“ (BStU, AR 8), so ein Kollege Leus. Diese Tatsachen waren auch in Rostock bekannt.

Die „Wilde Euthanasie“

„Damals […] ahnte ich, dass auf dem Sachsenberg etwas nicht in Ordnung

war, und dass man dort womöglich Leute umbringt.“ (Aussage des ehemaligen Klinikleiters, Prof. Ernst Braun, BStU, AR 8).

Und dennoch verlegte man weiterhin Patienten von Rostock zum Sachsenberg (Schwerin). Heute schätzt man, dass zwischen 700 und 1.000 psychisch erkrankte oder geistig behinderte Menschen in Schwerin der so genannten „Euthanasie“ zum Opfer gefallen sind, darunter auch eine große Anzahl von Rostocker Patienten. Berücksichtigt man, dass neben den direkten Verlegungen von Rostock nach Schwerin auch die über Domjüch, die Anstalt wurde 1943 geschlossen, nach Schwerin Verlegten hinzukommen, muss man wohl von einer Zahl von mehreren Hundert ausgehen. Derzeitige Schätzungen gehen davon aus, dass in Mecklenburg 2.000 Menschen außerhalb der Aktion T4 getötet wurden (Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie, 582).

Insgesamt schätzt man, dass unter dem NS-Regime zwischen 1939 und 1945 ca. 300.000 Menschen den Krankenmorden zum Opfer fielen. Aufgrund von psychischen Erkrankungen oder Behinderungen sprach man diesen Menschen die Berechtigung auf Leben ab, etikettierte sie als „Ballastexistenzen“ und „Minderwertige“. Sich ihrer Schicksale zu erinnern, das „Verweilen beim Grauen“, wie es Hannah Arendt nannte, soll nicht nur über Vergangenes informieren, es soll auch zum Nachdenken über Tendenzen der Gegenwart herausfordern. Der berühmte Satz William Faulkners „Die Vergangenheit ist durchaus nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen“ erscheint aktueller denn je.

„Erinnerung klagt niemanden an, den keine individuelle Schuld trifft. Erinnerung zielt auf eine auch über längere Zeiträume, über Generationen hinweg wirkende Verantwortung […] Erinnerung ist Solidarität mit den

Opfern […] „(Claus Nientiedt in Waltraud Häupl, Der organisierte Massenmord an Kindern und Jugendlichen in der Ostmark 1940-1945, 18).

Dr. Kathleen Haack, Dr. Ekkehardt Kumbier, Prof. Dr. Sabine C. Herpertz

Literatur

  1. Faulstich, H. Hungersterben in der Psychiatrie 1914.1945. Freiburg: Lambertus; 1998.
  2. Häupl W. Der organisierte Massenmord an Kindern und Jugendlichen in der Ostmark 1940-1945. Wien, Köln, Weimar: Böhlau; 2008.
  3. Harms S. Fürsorge im Nationalsozialismus in der Hansestadt Rostock und im Landkreis Rostock: Diss.; 2003.
  4. Kaiser J-C, Nowak K, Schwartz M. Eugenik, Sterilisation, „Euthanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Berlin: Buchverlag Union; 1992.
  5. Klee E. Euthanasie im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens Frankfurt: Fischer; 2001
  6. Miesch I. Zwangssterilisation in Mecklenburg während der Zeit des Nationalsozialismus. Zeitgeschichte Regional, Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 1998; 2: 4-9.
  7. Schmuhl H-W. Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie : von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ ; 1890—1945. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 1992.
  8. Schubert H. Die Welt da drinnen. Eine deutsche Nervenklinik und der Wahn vom ‚unwerten Leben‘. Frankfurt: Fischer; 2003.
  9. Skalweit W. Die Tätigkeit des Amtsarztes bei der Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Der Öffentliche Gesundheitsdienst 1935;Teilausgabe A: Ärztlicher Gesundheitsdienst.

Verwendete Archive

BA                          Bundesarchiv Berlin

BStU                       Archiv der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen

GStA                      Geheimes Staatsarchiv Berlin

Krankenblattarchiv des Zentrums für Nervenheilkunde der Universität Rostock Krankenblattarchiv der Helios Kliniken Schwerin, Carl Friedrich Flemming Klinik Krankenblattarchiv der SALUS gGmbH, Fachklinikum Uchtspringe LWV             Landeswohlfahrtsverband Hessen, Archiv der Gedenkstätte Hadamar

MLHA                    Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin

Stadtarchiv Neustrelitz

UAR                       Universitätsarchiv Rostock

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